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Wie Juden Deutsche wurden

Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. zum 19. Jahrhundert

Erschienen am 15.08.2010, Auflage: 1/2010
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593391700
Sprache: Deutsch
Umfang: 350 S., 19 Fotos
Format (T/L/B): 2.1 x 21.3 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

"Ein wunderbar ausgearbeitetes, mit viel Empathie geschriebenes Buch" Ute Frevert In den 1930er Jahren erstellten die Nationalsozialisten eine Kartei, in der alle Konversionen deutscher Juden seit 1645 aufgelistet sind. Sie wurde zum Ausgangspunkt für dieses Buch. In ihm erzählt Deborah Hertz anhand von Briefen und Tagebüchern von den Motivationen und Hoffnungen zahlreicher Juden, die zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert zum Christentum konvertiert waren. Im Mittelpunkt steht dabei Berlin, damals Zentrum des kulturellen Lebens. Die individuellen Geschichten - unter anderem der Familien Mendelssohn und Varnhagen - zeichnen ein differenziertes Bild jüdischer Identitäten während der Reformation und Emanzipation - erzählende Geschichtsschreibung im besten Sinne.

Leseprobe

Ein weiterer berühmter Fall aus diesen Jahren ist der der beiden konvertierten Töchter von Moses Isaak Fließ. Das Testament ihres Vaters legte fest, dass kein konvertiertes Kind von seinem reichen Besitz erben könne. Wenn sie hingegen jüdisch blieben, sollte jede Tochter fast 100.000 Taler erben, ein riesiges Vermögen. Ein Fabrikarbeiter in Berlin verdiente damals 150 Taler jährlich, der Jahresverdienst eines Professor lag bei 600 Talern, und wie wir soeben erfahren haben, betrug Rahels Mitgift 20.000 Taler. Ein Jahr nachdem Moses Isaak Fließ 1779 gestorben war, entschieden sich seine beiden Töchter Blümchen und Rebecca für die Taufe, und jede heiratete einen Adeligen. Ihre Brüder, die noch Juden waren, weigerten sich, ihre Mitgift auszuzahlen, und der Fall landete schließlich vor den Zivilgerichten. Als Friedrich Wilhelm II. im Jahr 1786 König wurde, entschied er zugunsten der Brüder, denn die Elternrechte waren ein wichtigerer Grundsatz als das praktische Vorhaben, die Zahl der Konversionen zu erhöhen. Dieselben Brüder, die ihren Schwestern erfolgreich eine Erbschaft verweigerten, zeigten ihrerseits dieselben Gepflogenheiten, welche die Krise der Familie kennzeichneten. Einer von ihnen, Joseph Fließ, konvertierte später ebenso wie die Kinder der anderen Brüder. Außerdem hatte Joseph eine jahrelange Affäre mit einer christlichen Geliebten, Louise Luza, die er nach dem Tod seiner Frau heiratete. Josephs Bruder Beer Isaak blieb Jude, war aber der Vater zweier unehelicher Kinder. Ein dritter Bruder, Meyer Moses, wurde von ihrem Vater, bevor dieser starb, aufgrund seines "Lebensstils" enterbt, und dieser Sohn konvertierte im Jahr 1787 ebenfalls. Über die verschlungenen Netze aus familiärer Zwietracht, Geld und religiösen Konflikten, in denen die Meyer-Schwestern und die Isaak-Fließ-Schwestern sich verfingen, wurde in Zeitungen und Zeitschriften debattiert, da die Zeitgenossen verstehen wollten, wie jüdisches Gesetz, bürgerliches Recht und Kirchenrecht den komplizierten Status von Konvertiten regelten. In einem weiteren Familiendrama voller widerstreitender Gefühle, das sich um die Konversion drehte, spielte Dorothea Mendelssohn die Hauptrolle. Als wir ihr zuletzt begegneten, war sie 18, hieß noch Brendel und war frisch verheiratet mit Simon Veit. In den Jahren nach ihrer Heirat waren die Freunde des Paares sich nicht einig; einige dachten, sie sei zufrieden, und andere sorgten sich offen, dass sie unglücklich mit Simon sei. Nachdem sie gerade einmal drei Jahre verheiratet waren, verlor Brendel ihren und Simon seinen Vater. Zwei Jahre später zogen Brendels Mutter Fromet und die jüngeren Mendelssohn-Geschwister nach Neustrelitz, einer Stadt in einiger Entfernung von Berlin. Brendel und Simon setzten vier Söhne in die Welt, aber nur zwei von ihnen überlebten, Jonas und Philipp. Aus der Ferne betrachtet, mag Brendels Familienleben durchaus ziemlich ruhig und traditionell gewirkt haben. Doch ein genauerer Blick enthüllt, dass auch sie die traditionelle jüdische Welt bereits hinter sich ließ, als sie noch verheiratet war. Sie pflegte Freundschaften mit mehreren bekannten christlichen Intellektuellen, und sie wirkte mit bei der Gründung einer romantischen Geheimgesellschaft namens Tugendbund. Im Jahr 1794 legte sie den zu jüdischen Namen Brendel ab und nannte sich fortan Dorothea. Drei Jahre später, im Sommer 1797, als sie 32 Jahre alt war, begegnete Dorothea zum ersten Mal dem Dichter Karl W. Friedrich Schlegel. Er war damals 25 und sah mit seinen langen Haaren, seinerzeit ein Zeichen der Begeisterung für die Revolution in Frankreich, ziemlich gut aus. Friedrich hatte sich bereits einen Namen als Intellektueller gemacht, obwohl er noch im Schatten seines älteren Bruders August Wilhelm stand, eines enorm einflussreichen Professors an der Universität von Jena. Zum Glück für Dorothea fühlte Friedrich sich zu älteren Frauen mit starker Persönlichkeit hingezogen, und die zwei verliebten sich ineinander. Als ihre ...

Inhalt

Inhalt Vorwort zur deutschen Ausgabe Danksagungen 1 Die schwarzen Ordner 2 Die Epoche religiöser Konversion, 1645-1770 3 Rahel Levin wird erwachsen, 1771-1810 4 Emanzipation und Krieg, 1811-1813 5 Familien der Hochkultur und öffentliche Satire, 1814-1819 6 Das "Entreebillet zur europäische Kultur", 1820-1833 Epilog Anhang Anmerkungen Register

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Die NS-"Judenkartei" und die Geschichte jüdischer Konversion